Einfach Jetzt!
Qigong und Taijiquan als Übungswege der Meditation
Abstract:
Einfach Jetzt! Qigong und Taijiquan als Übungswege der Meditation
Ausgehend von der allgemein menschlichen Erfahrungsmöglichkeit des absoluten Hier und Jetzt, das die unmittelbare Gegenwart mit dem tiefen Seinsgrund im „Einswerden mit dem Dao" begründet, arbeitet der Autor die allgemeinen Voraussetzungen heraus - Gedanken und Gefühle als Hindernisse und die Übung selbst als Hürde -, einen Übungsweg zu gehen und widmet sich den Besonderheiten der Praxis und der grundlegenden Übungsstufen des Qigong und Taijiquan, sowie der Verbindung von individuellen und kosmischen Aspekten des Weges. Zudem zeigt er Parallelen von mystischen Daoismus und westlicher Wissenschaft auf, um dann wieder zum allgemeinen Ausgangspunkt zurückzukehren und die Frage zu beantworten: Warum sind wir hier?
Der Beitrag dient dem Autor zur Vorbereitung eines Vortrages und eines Workshops auf dem DDQT-Kongress „Endlich Ruhe" vom 2. - 4.9.2011 in der Nähe von Würzburg.
Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Wer sind wir? Warum sind wir hier? Das sind die tiefen spirituellen Lebensfragen, auf die alle mystischen Traditionen der großen Weltreligionen und ihre Übungswege (Yoga, Zen, Qigong, Taijiquan, Sufidrehtanz, kontemplatives Gebet usw.) eine Antwort suchen. Die Antwort, die sie in letzter Instanz alle geben, liegt, um es vorwegzunehmen, in der tiefen Erfahrung des Hier und Jetzt, in der Präsenz des Augenblicks, der die unmittelbare Gegenwart (jenseits von Vergangenheit und Zukunft) mit dem tiefen Seinsgrund verbindet. Wenn tatsächlich alle meditativen Übungswege auf dieses gemeinsame Ziel ausgerichtet sind, so ergibt sich die Frage: Wodurch unterscheiden sie sich? Oder anders ausgedrückt: Gibt es etwas Besonderes am Weg des Qigong und Taijiquan? Wenn nicht, dann wäre es doch egal, welchen Weg wir gehen! Dieser Frage: Warum sind wir hier? - und ihrer Verbindung zum Qigong und Taijiquan, gilt es in diesem Beitrag nachzugehen, sie genauer zu betrachten und eine Antwort darauf zu suchen.
Wenn wir uns mit Fragen des Übens auseinandersetzen, hören wir einerseits immer wieder, dass es notwendig ist, über Jahre zu üben und regelmäßig auf dem Weg zu bleiben. Von vielen Lehrern werden 5, 10, 15 oder 20 Jahre und mehr als notwendig erachtet, um die tiefe Einheit mit sich selbst und dem Universum zu erfahren und in den Alltag zu integrieren. Andererseits scheint es eine Tatsache zu sein, dass es in unserer Zeit immer mehr Menschen spontan gelingt, ohne langes Üben, mitten im Alltag in die Präsenz des Hier und Jetzt zu erwachen. Ein anderes Phänomen ist, dass schwere Lebenskrisen (tiefe Ängste ausgelöst durch Krankheit, Scheidung, Arbeitsplatzverlust) den Anstoß geben können, um in die Seinspräsenz durchzubrechen, und dass die Menschen dann spüren, dass Meditation eine Hilfe sein kann, diesen Zustand der inneren Freiheit in sich zu stabilisieren.
Was können wir aber tun, wenn wir uns noch als suchend empfinden, wenn wir noch kein Erwachter Buddha sind, noch nicht in der inneren Freiheit ruhen und uns die spontane, kreative Freude des Lebens fehlt? Scheinbar gibt es doch Hürden und Hindernisse, die uns davon abhalten, in diesen Zustand zu gelangen.
Gedanken und Gefühle als Hindernisse
Der Zustand der Leere kennt keine Gedanken und kein Ich. Das Ich, das Ego und die damit verbundenen Gedanken, Selbstkonzepte und Selbstbilder sind oft ein großes Hindernis, uns in die Erfahrung der Einheit fallen zu lassen. Das Absolute, das große Nichts oder die Leere usw. kann aber nur erfahren werden, wenn wir das rationale Denken übersteigen und es hinter uns lassen. Es geht also auf der mentalen Ebene darum, sich immer wieder klar zu machen, dass wir die höchste Erfahrung des Seins, nicht mit Denken erreichen können. Da unsere ganze Kultur darauf ausgerichtet ist, dass wir uns fast ausschließlich mit unsrem Denken identifizieren, müssen wir nun üben, von diesem Denken wieder loszulassen. Wir müssen üben, ein inneres Nichts zu sein und von jedem äußeren Etwas loszulassen. Dies fällt uns oft umso schwerer, je mehr wir unser Ich, unser Ego mit der äußeren Welt identifizieren: mit unserem Wissen, unserer Erfahrung, unseren geistigen (Beruf, Titel, Familie, Lebenslauf, gesellschaftliche Stellung usw.) und materiellen (Lebensstandard wie z.B. Haus, Auto, Urlaub usw.) Errungenschaften. Das alles kann wichtig gewesen sein, um ein gesundes Ich oder Ego zu erwerben. Nun gilt es aber, all dies wieder hinter sich zu lassen, um innerlich weiter wachsen und reifen zu können.
Dabei müssen wir aber darauf achten, dass wir es vermeiden ins Gegenteil zu verfallen und uns statt an unsere Gedanken nun an unsere Gefühle (siehe Grafik Gefühle) zu hängen und uns nur noch mit Ihnen zu identifizieren. Dies wäre ein deutlicher Schritt zurück, statt ein Schritt nach vorn. Gefühle dürfen sein und Gedanken dürfen sein, aber eine ausschließliche Fixierung auf unsere Gedanken hält uns fest, und eine ausschließliche Fixierung auf unsere Gefühle lässt uns zu einem kindlichen Wesen zurückfallen, das selbst das Erwachsen-Werden, ein gesundes Ich oder Ego zu werden, verweigert. Aus therapeutischen Gründen kann es vorübergehend sinnvoll sein, mit den in uns gestauten oder verdrängten Gefühlen in Kontakt zu kommen, sich mit Ihnen zu identifizieren, sie wieder zu erleben, durchzuarbeiten und zu integrieren. Bei jeglichem meditativen Üben geht es jedoch darum, die Gedanken und Gefühle zu beruhigen, sie achtsam wahrzunehmen, sie nicht zu bewerten, sie loszulassen und hinter sie, in die innere Leere, in das Nichts zu schauen. Diese innere Distanzierung kann uns verwandeln und innere Entwicklung und Entfaltung ermöglichen. Symbolisch gesprochen geht es darum, Kopf und Bauch zu beruhigen, um in den Rumpf, in das „Herz", in die „innere Mitte", in das Nichts zu spüren. Es geht darum, uns über unser individuelles Sein mit dem universellen Sein und der universellen Leere zu verbinden, um die Einheit allen Seins und Nicht-Seins zu erfahren.
Die Übung selbst als eine Hürde
Dabei spielt bei jeglicher Übung das „Wie" des Übens eine entscheidende Rolle, also auch Ort und Zeit entsprechend den eigenen Bedürfnissen „richtig" zu wählen. Eine innere Einstellung von Ruhe, Stille, Gelassenheit, Selbstvergessenheit, Üben ohne Ziel (Üben um zu Üben), sind von großer Bedeutung. Jedoch kann eine sorgfältig gewählte regelmäßige Praxis den Übungsweg schulen und vertiefen. Hinderlich ist dagegen, die Übungsstunden, -tage, oder –wochen mit „großem Biss", „radikaler Konsequenz" oder „gnadenloser Selbstdisziplin" „runter zu reißen" oder „verträumt oder verschlafen abzusitzen, -zubewegen oder zustehen". Bei der Frage des „richtigen Übens" kann uns ein erfahrener Lehrer sehr hilfreich sein. Neben der Einstellung zur Übung selbst spielen bei allen Übungsmethoden zwei unterschiedliche Herangehensweisen eine wichtige Rolle: Das Üben mit und das Üben ohne Fokus. Zum Üben mit Fokus gehört die Konzentration auf den Atem, auf ein Mantra, ein Koan, eine Bewegung, eine Haltung usw. Ohne Fokus zu üben bedeutet, sich auf nichts zu konzentrieren: Sitzen in Vergessenheit, Stehen und sonst nichts; sich Bewegen in der offenen, weiten Leere; Tanzen zwischen dem weitem Himmel und der festen Erde usw. Wichtig dabei ist, sich ganz auf eine Methode zu konzentrieren und nicht zwischen den Methoden hin und her zu wechseln. Dabei wird die Methode gewählt, von der wir uns am meisten angezogen fühlen oder die, die mit dem Lehrer abgesprochen wurde. Nicht jede spirituelle Tradition kennt jedoch beide Übungsmethoden. Ebenso sollten wir darauf achten, welcher Übungsweg (Yoga, Zen, Qigong, Taijiquan usw.) uns am meisten anzieht und welcher Lehrer oder Meister uns am meisten anspricht.
Das Besondere an den Methoden der Meditation im Qigong und Taijiquan
Bewegtes Qigong (nur davon soll hier die Rede sein) und Taijiquan sind im Gegensatz zu den verschiedenen Formen der Meditation im Sitzen Übungen im Stehen und Gehen. Das unterscheidet sie sehr deutlich von den meisten Meditationsformen im Sitzen. Nur im Yoga (aufrechte Haltung) und im Sufidrehtanz (langsames und schnelles Drehen um die eigene Achse) gibt es gewisse Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten. Das Besondere beim Qigong und Taijiquan sind die gleichmäßig mit dem Atemrhythmus langsam fließenden Bewegungen im Stehen und Gehen, wobei auch die Schritte sehr bewusst gesetzt werden. Es ist also möglich, von einer aktiven Art der Meditation zu sprechen, da sich der Übende nicht in eine sitzende Haltung fallen lassen kann. Er wird stattdessen in seiner bewegten aufrechten „Alltagshaltung" geschult. Dies führt zu einer intensiven Einbeziehung des Körpers in den meditativen Schulungsprozess und macht es leichter, die inneren Übeerfahrungen in das tägliche Leben zu übertragen. So können Übung und Alltag schneller als Einheit erfahren werden. Wenn die Übungen im Sinne der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) zudem auf eine energetische Weise ausgeführt werden, so können auch die gesundheitlichen Aspekte beider Übungssysteme in das Üben einbezogen werden.
Eine zusätzliche Besonderheit bietet der Kampfkunstaspekt des Taijiquan in den Figuren der Formen und in den Partnerübungen (Tuishou), da er auf besonders intensive Weise die Einheit von Körper und Geist schult. Wenn auch diese Übungen mit der vollen Konzentration auf das Hier und Jetzt - im meditativen Sinne - praktiziert werden, so können auch sie bis zur Erfahrung der „Einheit mit dem Dao" und somit zur völligen Angstfreiheit führen. Angstfreiheit ist wiederum die wichtigste Vorraussetzung für einen „sportlichen" Wettbewerbserfolg in der Kampfkunst.
Allgemeine Entwicklungsstufen in Qigong und Taijiquqan
Die Besonderheiten des Qigong und Taijiquan kommen auch in der Beschreibung von Entwicklungszuständen, die bis zur „Einheit mit dem Dao" führen, zum Ausdruck. Um das Höchste und Letzte (Taiji) Ziel der Übung, die Einheit von Körper und Geist (Einheit mit dem Dao) zu erreichen, sind alle Aspekte des Menschseins einzubeziehen. Diese Erkenntnis führt schon im frühen Daoismus (Milanowski) zu der Transformationskette: Körper (Jing), Energie (Qi) und Geist (Shen) und Leere (Xu). Die Übungsschritte beschreiben die Schulung einer sich stetig verfeinernden und vertiefenden Wahrnehmung und Bewusstheit. Sie führen auf den verschiedenen Ebenen jeweils vom Groben zum Feinen. Dabei spielt auch die Entwicklung und Wahrnehmung der drei Tantiens eine wichtige Rolle. Nachfolgend sollen 7 Entwicklungszustände oder Levels kurz skizziert werden, deren allgemeine Beschreibung als Grundlage für das Üben alle Figuren oder Formen im Qigong und Taijiquan angesehen werden kann:
- grobes Jing: Das korrekte Lernen der Figuren, Bewegungsfolgen und Formen. Den Körper durch Entspannung und Loslassen (sung) von der rohen Kraft (li) befreien und weich und beweglich trainieren. Die sexuelle oder vitale Lebenskraft wecken.
- feines Jing: Verfeinerung der Figuren und Formen an Hand der Haltungs- und Bewegungsprinzipien. Die vitale Lebenskraft aktivieren, bewahren und verfeinern. Entwickeln der elastischen Kraft (jin).
- grobes Qi: Verwandlung von Jing in Qi. Wahrnehmung des groben und breiten Fließens (flow) und Strömens der vitalen Lebenskraft Qi. Das Qi sammeln und vermehren. Lenken des Qi durch Vorstellungskraft und Aufmerksamkeit (yi).
Wuwei (handeln ohne zu handeln – aus dem Sein) mit Gelassenheit üben und verwirklichen. - feines Qi: Verfeinerte, differenzierte und vertiefte Wahrnehmung, Sammlung, Lenkung und Abgabe des Qi, durch Vertiefung der Aufmerksamkeit. Te (die Wirkkraft des Dao) - Handeln aus der Mitte entfaltet sich von innen.
- grober Shen: Qi in Shen veredeln. Einübung der Gedankenstille durch Konzentration des Geistes auf die jeweilige Übung. Der Geist kommt zur Ruhe (rujing). Ziran (spontane Bewegung – körperlich und geistig) entsteht aus dem So-Sein, der Absichtslosigkeit.
- feines Shen: Sich über grobes Shen in feines Shen und Xu versenken. Mühelose Gedankenstille und Ruhe in der Bewegung. Die Leere (xu) und das Nichts erfahren und selbstvergessen in ihr ruhen. Das Herz-Bewusstsein (xin) verankert sich in der Stille der Gestaltlosigkeit (wuji).
- Dao: ,Taiji, das „Höchste Letzte" ist erreicht: Die „Einheit mit dem Dao". Yin und yang, innere (subjektive) und äußere (objektive) Welt fallen zusammen, das Nichts und das Etwas, Jenseits und Diesseits, Weisheit und Mitgefühl sind eins, daher wird dies Stufe auch die „natürliche Stufe" benannt. Sie ist identisch mit dem 10. Ochsenbild aus dem Chan-Buddhismus: Der Meister betritt den Marktplatz des Lebens.
In der letzten Stufe wird der Übende zum Taiji-Meister. Er verinnerlicht und übersteigt alle Polaritäten und transzendiert damit das Andere und das Selbst, so kann er die Integration in das Eine erreichen. Das Dao wird im Tun genauso erfahren wie im Gegenüber. Er begegnet sich immer wieder selbst in den Stärken und Schwächen der Mitmenschen. Das Herz-Bewusstsein (xin) macht den Meister sanft, freundlich, bescheiden, demütig, liebevoll, unparteiisch und neutral. Es stärkt die innere Freiheit, Lebensfreude und Kreativität, macht ihn aber auch energiegeladener und kraftvoller, wenn es sinnvoll und notwendig ist. Der Meister erweitert seine Identifikation immer mehr und bringt damit in seinem Umfeld Himmel und Erde in Harmonie. Er erkennt seine Einheit mit dem Kosmos, ist somit ein „Unsterblicher" geworden.
Der Übungsprozess über die Entwicklungsstufen von 1 bis 6 kann auch, bildlich gesprochen, als eine Vertiefung oder Verwandlung auf der Farbskala von Schwarz über die verschiedenen Abstufungen der Grauskala bis zu Weiß verstanden werden. Der Prozess verläuft nicht nur von unten (Fülle) nach oben („Schritte auf der schamanischen Himmelsleiter" bis zur Leere), sondern auch von oben nach unten. In der 7. Stufe fallen dann Körper (schwarz - yin) und Geist (weiß - yang) im Taiji-Symbol zur letzten Einheit zusammen.
Wichtig ist die Erkenntnis, dass jede höhere Stufe oder jeder weiterer Level alle darunter liegenden in sich einschließt. So gesehen ist die hier beschriebene letzte Ebene keine Stufe mehr, sondern die Ganzheit an sich. Eine Entfaltung und Entwicklung des Übenden über diese sieben Schritte kann von einem erfahrenem Lehrer oder Ausbilder (Meister) deutlich wahrgenommen und unterschieden werden. Dennoch werden von Anfang an Körper (jing), Energie (qi) und Geist (shen, xu) gleichermaßen geschult und trainiert. Dies führt zu einer intensiven Einbeziehung von allen körperlichen und energetischen Aspekten in den Übungsprozess. Die rein sitzenden Meditationsformen (die in erster Linie auf den Geist gerichtet sind) können dies in dieser intensiven Form nur schwerlich leisten. Dies ist mit ein Grund, warum Durchbrüche zur Leere (xu) im Qigong und Taijiquan eher selten sind, da von vornherein eine intensive körperliche Erdung einen überschnellen „Erfolg" vermeidet, der später lange nachgearbeitet und integriert werden muss. Der Verwandlungsprozess im Qigong und Taijiquan, bis hin zur letzten Stufe, entwickelt sich von vorn herein eher langsam und integrativ und oft fast unmerklich, da dem Körper eine hohe Aufmerksamkeit gewidmet wird. Schüler ohne festen Lehrer neigen allerdings dazu, zwischen der 2. und 3. und der 4. und 5. Stufe den Übungsweg abzubrechen, da sie meinen, schon alles gelernt zu haben. Da sich zwischen diesen Stufen vom vorwiegend körperlichen zur vorwiegend energetischen und von der vorwiegend energetischen zur vorwiegend geistigen Wahrnehmung ihr Bewusstsein deutlich verändert, brauchen sie gerade an diesen Punkten des Weges eine klare Unterstützung und Begleitung.
Es wird in verschiedenen Richtungen und Schulen zwischen 5 und 10 Stufen oder Levels unterschieden (Chen Xiaowang: 5, Kobayashi: 6, Mantak Chia: 7, Zhi Chang Li: 8, Chen-Man Ching: 9 und Wee Kee-Jin: 10). Nach meiner Erfahrung reichen sechs oder sieben Stufen aus, um die Gemeinsamkeiten von Qigong und Taijiquan zu beschreiben.
Die Einheit von indivduellem und kosmischem Qi und Xu im Qigong und Taijiquan
Im Qigong und Taijiquan ist sowohl das Üben mit einem Fokus als auch das Üben ohne Fokus bekannt. Zum Üben mit einem Fokus zählt u.a. die Konzentration auf das untere Dantien, auf die Bewegung an sich und auf die Lenkung des Qi, auch unterstützt mit Symbolen und Bildern, usw. Zum Üben ohne Fokus zählt: Sich Bewegen und sonst nichts, Bewegung in Selbstvergessenheit, Bewegen in die offene unendliche Weite des Raums usw. Die volle Konzentration auf einen Fokus oder „Punkt" kann zu einer Wahrnehmung der „vollen Offenheit, Weite und Leere" führen. Die Konzentration auf „Nichts" dagegen zur Erfahrung der „absoluten Fülle in einem Punkt". Auch hierdurch kommt die volle Einheit aller Gegensätze von yin und yang (Fülle und Leere) zum Ausdruck.
Weitere Übungshilfen, um die Erfahrung Einheit vom individuellen Qi (yinyangqi) und individueller Leere mit dem kosmischen Qi (yuanqi) und der kosmischen Leere zu fördern, sind Partnerübungen (Einswerden mit dem Übungspartner) sowie Visualisierungsübungen zur Einswerdung mit der Natur (zum Beispiel das Aufnehmen des Qi der Bäume, der Berge, der Sonne, des Mondes, des Wassers, des Windes, der Wolken usw.) und Übungen zur Sendung oder Strahlung von Qi über den eigenen Körper hinaus (u.a. zu Stärkungs- und Heilungszwecken). Dabei kann das Üben mit Geräten (Stock, Schwert, Säbel, Fächer usw.) ebenso hilfreich sein wie die reine Vorstellungskraft. Je weiter der Übende in seiner Entwicklung fortschreitet, desto größere Bedeutung bekommt dem Üben des kleinen und großen Energiekreislaufes zu, die sowohl im Stehen, als auch im Sitzen oder Liegen geübt werden können. Wer viel im Stehen und Gehen übt, wird das „Sitzen in Vergessenheit" (zuowang) als angenehme Abwechslung und Bereicherung des Übens empfinden. Daher empfiehlt es sich, in jedes längere bewegte Üben (Übungstage, -Wochenenden, -Wochen) das Üben im Sitzen zu integrieren.
Die durch das „richtige Üben" (die innere Einstellung, das „Wie" zählt – siehe oben) induzierte Erfahrung der „Einheit mit dem Dao" erzeugt im Übenden eine tiefe Ehrfurcht vor der Natur, dem Leben und dem ganzen kosmischen Geschehen, so dass ein tiefes Verantwortungsgefühl entsteht, das darauf gerichtet ist, die umfassende Fülle der Natur und des Lebens auf diesem Planeten zu erhalten und die Erfahrung von „alles ist Eins" weiterzugeben.
Parallelen zwischen mystischem Daoismus und westlicher Wissenschaft
Der Daoismus ist (nach Milanoswki) aus dem chinesischen Schamanismus (Wuismus) entstanden. Die Erfahrungen der Schamanen wurden durch die Meister des Qigong und Taijiquan im Daoismus weiterentwickelt. War die Erfahrung des Schamanen extatisch (nach außen) gerichtet, so ist die Erfahrung des daoistischen Meisters auf Entase (nach innen) gerichtet. Jedoch ist die Erfahrung der Extase im Zifagong (spontan, frei fließende Bewegung aus der Stille) im Daoismus noch vereinzelt erhalten geblieben. Die weit überwiegende Zahl der Übungssysteme ist jedoch sowohl im Qigong also auch im Taijiquan auf Entase gerichtet. Die Entase kann als eine Weiterentwicklung der Extase gesehen werden. Der Daoismus wurde sowohl vom Buddhismus als auch vom Konfuzianismus auf unterschiedliche Art und Weise beeinflusst. Insbesondere der geistig orientierte Chan(Zen)-Buddhismus hatte einen starken Einfluss auf die chinesische Kampfkunst (Shaolin-Kloster) und damit auch auf das Taijiquan und die vorbereitenden oder ergänzenden Qigong-Übungen. Der Konfuzianimus, soweit er im Daoismus aufgenommen wurde, repräsentiert die Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten gegenüber Familie, Gesellschaft und Staat.
Dies drückt sich in der „Alltagsweisheit" vieler Chinesen aus: Der Daoismus ist für das diesseitige Leben (Gesundheit), der Buddhismus für das jenseitige Leben (Transzendenz) und der Konfuzianimus für den Staat (Pflichten gegenüber Familie und Gesellschaft) zuständig. So ist der „gläubige" Chinese bemüht, allen drei großen Religionen zu dienen. Wenn diese tiefe „Lebensweisheit" wirklich ernst genommen und ein Übungsweg beschritten wird, führt sie zu einer gesunden ganzheitlichen Entwicklung, die bis zum transzendenten non-dualen Bewusstsein reicht und die Verantwortung für das Leben, die Natur und die Gesellschaft mit einbezieht.
Die moderne Neurowissenschaft (Gehirnfoschung) bestätigt nach Hilbrecht die Erfahrungen der alten Qigong- und Taiji-Meister: Meditation hat einen enormen Einfluss auf die Gehirnleistung und somit auf die individuelle Entwicklung, da sie u.a. Stress und Ängste abbaut. Auch Hilbrecht zeigt eine Stufenfolge (1 - 10) der Entwicklung auf, die parallel zu den oben dargestellten Stufen oder Zuständen gesehen werden kann. Die neurophysiologische Forschung deckt zudem Zusammenhänge zwischen Meditation, Gehirn, intensiver Körperschulung und den Spiegelneuronen (Vorbildfunktion fortgeschrittener Schüler und des Meisters) auf und stellt unter anderem fest: In Gehirnzuständen, in dem die Atmung sehr verlangsamt ist und die dem Tiefschlaf ähneln, entstehen Erfahrungen von Licht, Glanz, Leere und tiefer „Einheit mit Allem".
Dies nennt der transpersonale Bewusstseinsforscher Wilber non-duales Bewusstsein. Es vereint die Bewusstseinszustände: Alltagsbewusstein (materiell – grobstofflich – Betawellen 13 – 30 Herz, Hypnagoges Stadium 8-13 Herz), waches Traumbewusstsein (feinstofflich – subtil – Thetawellen 4 - 7 Herz) und waches Tiefschlafbewusstsein (kausal – leer – Deltawellen 1 – 4 Herz) zu einem einzigen hellwachen Bewusstseinszustand (absolut – non-dual – langsame Alpha/Thetawellen und Beta- und Deltawellen). Wilber bezeichnet die oben dargestellten Entwicklungsstufen, Schritte und Level (1-7) als Bewusstseinszustände, die jeder Mensch erleben kann, egal auf welcher persönlichen Entwicklungsstufe er sich befindet. Je nach seinem eigenen Entwicklungsstand wird er nach Wilber seine Erfahrungen entsprechend seiner individuellen Entwicklung interpretieren. Den oben angeführten Bewusstseinszuständen können (siehe die Angaben oben in Klammern) entsprechende Gehirnfrequenzen zugeordnet werden.
Die sozio-kulturelle Forschung hat herausgearbeitet, dass sich menschliche kulturelle Entwicklung über Stufen oder Ebenen entfaltet. Dies Stufen nennt Gebser: archaisch, magisch, mystisch, rational und integral. Dabei bezieht jeder höhere Stufe die darunter liegende in sich ein, übersteigt sie aber deutlich wahrnehmbar. Auch der spirituelle Denker und Philosoph Wilber baut auf diesem Wissen auf und bestätigt, dass sich parallel dazu auch die individuelle, psychologische Entwicklung (nach Loevinger) über Stufen entfaltet: autistisch, symbiotisch, impulsiv, konformistisch, gewissenhaft, autonom, integriert.
Die oben dargestellten Bewusstseinszustände der Übenden (die im Qigong und Taiji Stufen, Schritte oder Levels genannt werden) müssen nach Wilber auf die jeweils höchste individuelle und kulturelle Stufe der Entwicklung gerichtet sein, wenn der Übende einen umfassend integralen Anspruch verwirklichen möchte.
Dabei muss der Übende nicht nur an der inneren individuellen und kollektiven Entwicklung (der subjektiven Werte und Normen) arbeiten und mitarbeiten, sondern muss auch die individuelle und kollektive Seite der äußeren, objektive Welt (Natur – Wissenschaft und Umwelt) im Auge behalten und mit einbeziehen. Aus dieser Betrachtungsweise ergeben sich nach Wilber vier Aspekte der Ganzheit: Das Ich (innen und individuell), das Wir (innen und kollektiv), das Es Einzahl (außen und individuell) und das Es Mehrzahl, auch Sie genannt (außen und kollektiv). Bei der Betrachtung der vier Aspekte wird schnell deutlich, dass es für ein globales Gleichgewicht der Kräfte in Ich, Wir, Es und Sie (in Selbst, Kultur, Natur und Soziales) daran mangelt, dass die innere individuelle und kulturelle Entwicklung (das Ich und Wir der Werte und Normen) weit hinter der technischen Entwicklung (das Es und Sie in Natur und Wissenschaft) hinterherhinkt. Daraus ergibt sich, dass jeder Übende aufgefordert ist, nicht nur seine individuelle Entwicklung im Auge zu haben, sondern gleichzeitig sich kulturell bzw. politisch zu engagieren!
Aufbauend auf den Erkenntnissen der transpersonalen Psychologie (Grof) und den letzten 30 Jahren meditativer Praxis und psychodynamischer Forschung im Westen, stellt Wilber deutlich heraus, dass eine wirklich tiefgreifende, ganzheitliche innere Entwicklung allein durch die meditativen Traditionen nicht gewährleistet werden kann, sondern dass in der Regel eine psychodynamische Arbeit bzw. Schattenarbeit ergänzend hinzukommen muss. Denn Licht oder Leere (Üben der Meditation) ist nicht ohne Schatten oder Fülle (psychodynamische Arbeit) zu haben. Auch hier steht das Taiji-Symbol für die höchste Einheit. Denn die Übungswege des Qigong und Taijiquan tragen gerade durch ihre intensive Körper- und Engiearbeit dazu bei, verdrängtes psychologisches Material ans Tageslicht zu befördern, das Bearbeitung und Integration von uns verlangt. Je besser die Integration von Schattenaspekten jedoch gelingt, desto mehr Energie wird freigesetzt, die für die individuelle Entwicklung und für das Leben zu Verfügung steht.
Die Quantenphysik hat schon vor rund 80 Jahren entdeckt, dass auf der kleinsten Ebene (Welle und Teilchen oder Quantum) eine wirklich feste Materie nicht existiert. Materie ist also auf der kleinsten Ebene nicht aus Materie zusammengesetzt, sondern besteht aus, wie es der Atomphysiker Hans-Peter Dürr formuliert: Beziehungen, Formen und Gestalten, die sich nicht greifen lassen, aus Informationsfeldern, Führungsfeldern und Erwartungsfeldern, aus reiner Potentialität und Verbundenheit. Es scheint also im Großen (Makrokosmos) ähnlich zu sein wie im Kleinsten (Mikrokosmos): Mehr als 99 Prozent sind leerer Raum. Nur etwa 1 Prozent besteht aus Wellen und Teilchen. Und ob etwas als Teilchen oder Welle in unserer Beobachtung erscheint, hängt vom Beobachter und seiner Versuchsanordnung ab. Objekt und beobachtendes Subjekt (der Wissenschaftler) sind also untrennbar miteinander verbunden. Das von Quantenphysikern beschriebene Phänomen der „Verschränkung" (Nichtlokalität der Teilchen, die aber durch Strings, „mehrdimensionale Fäden", verbunden sind) macht deutlich, dass in der Welt der kleinsten Quanten die alt bekannten physikalischen Gesetze nicht mehr gültig sind und sie auf nicht rational erklärbare (paradoxe) Phänomene stoßen. Parallele Erfahrungen von Leerheit hinter allen äußeren Erscheinungen (Quantenphysik) und die Erfahrung der Einheit von fester Materie (Fülle) und dem Nichts (Leere) in der Gehirnforschung scheinen also durch die westliche Wissenschaft bestätigt zu werden.
Wer sind wir und was ist unsere Aufgabe?
Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Wer sind wir? Das sind die zentralen Lebensfragen. Die Antwort lautet: Wir kommen aus dem Nichts (dem Dao) und kehren zum Nichts (dem Dao) zurück. Ich bin das Nichts und das Etwas zugleich (Taiji). Ich bin „ein Teil des Dao". Daher kann mir nichts passieren (ich kann all meine Ängste aufgeben!), außer, dass ich ins Nichts zurückfalle und als neue Welle im Meer des Lebens wieder entstehe. Und was ist nun der Sinn des Ganzen? Warum sind wir hier? Was ist meine Lebensaufgabe? Meine Aufgabe ist: Lebe (denn alles ist gut, wie es ist)! Entwickle und entfalte deine Fähigkeiten in voller Tiefe zum Wohle des Ganzen (denn alles ist verbesserungsfähig)! Das Leben ist also paradox! Freue dich über die Wunder der Natur! Tanze dein Leben als eine Note in der Unendlichkeit der komischen Symphonie! Staune! Sei frei! Sei kreativ und schöpferisch! Liebe das Leben, die Welt und die Erde, wie eine schäumende Welle im Meer und trage für sie Mitverantwortung! Denn: Transzendenz und Immanenz sind Eins, Tanz und Tänzer sind Eins, Ausatmen und Einatmen sind Eins, Leben und Tod sind eins und auch Schüler und Meister sind Eins! Es gibt nur das Eine, in dem alles Viele aufgehoben ist! Übe, geduldig und bleib am Ball, so kannst du es erfahren! - Jeder kann es erfahren! Wenn die Fische gefangen sind, sagen die Daoisten, braucht der Fischer das Netz (die Übungen) nicht mehr. Der ganze Alltag ist dann zur Übung auf dem Marktplatz des Lebens geworden! So dass wir dann sagen können: Wir sind eine Seite in Deinem großem Lexikon der Weisheit und des Mitgefühls oder: Du bist der große dunkle Schlaf, und ich bin der Traum Deines wahren Lebens!
Grafik: Das Yin und Yang der Gefühle in den fünf Wandlungsphasen
Literaturverzeichnis:
- Kobayashi, Toyo und Petra: T'ai Chi Ch'uan, Einwerden mit dem Tao, Hugendubel Verlag, 1989.
- Olvedi, Ulli, Yi Qi Gong, Das Stille Qi Gong nach Meister Zhi-Chang Li, O.W. Barth Verlag, 1994.
- Klemens J.P. Speer, T'ai Chi – Taijiquan, Qigong und Traditionelle Chinesische Medizin im Spiegel integraler Bewusstseinsforschung nach Ken Wilber, Selbstverlag, 2007.
- Engelhard, Ute, Theorie und Technik des Taiji Quan, Chinesischer Faustkampf, Bioligisch-Medizinische Verlagsges., ohne Jahr.
- Milanowski, Thomas, die magischen Körper-Geistübungen Chinas und deren Verbindung zum Schamanismus, Zu Historie, Theorie und Praxis des Qigong, ML-Verlag, 2. Aufl. 2005.
- Kohn, Livia, Sieben Stufen der daoistischen Meditation, Abhandlung über das Sitzen in Vergessenheit, Das Zuowanglun von Sima Chengzhen, ML-Verlag, 2010.
- Jäger, Willigis, Westöstliche Weisheit, Visionen einer integralen Spiritualität, Theseus, 2006.
- Hilbrecht, Heinz, Meditation und Gehirn, Alte Weisheit und moderne Wissenschaft, Schattauer, 2010.
- Russel, Peter, Quarks, Quanten und Satori, Wissenschaft und Mystik: Zwei Erkenntniswege treffen sich, Kamphausen, 3. Auflage 2007.
- Dürr, Hans-Peter, Warum es ums Ganze geht, Neues Denken für eine Welt im Umbruch, oekom, 2009.
Klemens J.P. Speer:
Lehrer und Ausbilder für T'ai Chi Ch'uan und Meditation. Klemens leitet T'ai Chi-Ausbildungen, die bis zum Kursleiter- und Lehrer-Abschluss führen können, ist zudem Mitinitiator, Gründungsmitglied und ehemaliges Vorstandsmitglied im Deutschen Dachverband für Qigong und Taijiquan (DDQT) und hat in dieser Funktion dessen Qualitätsstandards entscheidend mitentwickelt. Klemens ist Buchautor über eine Nahtoderfahrung und über die spirituell-philosophischen Werke Ken Wilbers, seit rund 30 Jahren auf dem Weg mit Meditation, Taijquan und Qigong und hat 22 Jahre Unterrichts-Erfahrung: Zusammengerechnet auf eine 40 Stunden-Woche ergibt dies mehr als 7 Jahre Meditations-Erfahrung im "Weltkloster des Lebens".